Wir leben in der „Postmoderne“, einer von chaotischer Vielfalt, Orientierungs- und Strukturlosigkeit, Diskontinuität, Widersprüchlichkeit und Parallelitäten geprägten Zeit, in der jeder selbst definiert, wie er etwas versteht – oder verstehen will, in der es so etwas wie „alternative facts“ gibt. Die Postmoderne stellt sich gegen alles und ist für alles, ähnlich dem fragwürdigen – weil feige anmutenden – Prinzip von Allparteilichkeit. Alles ist ok. Gleichwertig. Unterschiede werden für obsolet erklärt. Seien nur Folge unterschiedlicher Perspektiven. Alles hebt sich auf. Ist konstruiert. Nicht wirklich. Oder genauso wirklich wie unwirklich. Jegliche Formgebung erübrigt sich, da alles kontinuierlich in metamorphischer Auflösung und Umformung begriffen ist. Entscheidend ist, was draufsteht, nicht was drin ist. Entscheidend für den Kauf, für die Wahl, für die Entscheidung. Entscheidend ist die Erscheinung, das Bildnis, das Image, nicht das Dahinter. Die Diktatur der Fiktion.
Eines zeigt sich immer mehr: In jedem Fall scheint homo sapiens ganz und gar nicht geschaffen für eine Welt, die den postmodernen „Regeln“ der Auflösung gehorcht. „Aus dem Muss ist ein Kann geworden … Es kommt zu einer Vielzahl konkurrierender Traditionen und Einflüsse… Der Einzelne ist ein Teil, aber nicht mehr notgedrungen ein Teil des Ganzen…(Steingart, 2011, S. 79-80).
Und an den gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen wird deutlich, dass der Mensch sich nach Eindeutigkeit, Übersichtlichkeit, Strukturiertheit sehnt. Dass er die Sicherheit, die einem der definierte Raum und die definierte Zeit geben, vermisst. Dass sich Gegenbewegungen entwickeln als Reaktion auf ein ungeordnetes, unkontrollierbares, unüberschaubares Angebot.
Dies zeigt sich auch am Umgang mit dem Körper: Es kommt zu Entkörperlichung und Körperwahn, wobei beides sich wechselseitig bedingt. Mehr noch als ein Sich-Einander-Bedingen scheint jedoch ein grundsätzliches Fehlen der Verbundenheit mit dem eigenen Körper zu bestehen. Hinter dieser Entfremdung vom Körper steht die eigentliche, entscheidende Entfremdung von sich selbst: die Postmoderne ist eine Zeit der Selbstentfremdung. Das von Inhaltslosigkeit, von Leere bedrohte Selbst versucht über den Körper Identität zu generieren und zu demonstrieren. Doch erscheint dies nicht als bewusst selbst gewählter, aktiver Prozess, sondern als Folge des von Medien und Technik dominierten Lebens. Auch der Körperwahn ist keine entschiedene Hinwendung zum Körper, sondern die ins Körperliche verschobene Suche nach Halt. Eine Suche nach dem verlorenen Selbst, das in der Angst der Verlorenheit zu ertrinken droht. Beides, die Entkörperlichung und der Körperwahn sind sozusagen Indiz für die wahre Katastrophe: den drohenden Verlust des Selbst in einer von Fiktion dominierten Lebenswelt.
LITERATUR
Steingart, G. (2011). Das Ende der Normalität: Einsichten aus Politik und Zeitgeschichte. In L. Göttermann (Ed.), Denkanstöße 2012. Ein Lesebuch aus Philosophie, Kultur und Wissenschaft (pp. 78–84). München: Piper Verlag.